Ng Mui (Ning Mui) gilt der Legende nach als Entwicklerin der Kampfkunst Wing Chun. Während der Regentschaft von Kangxi (reg. 1662-1722) in der Qing Dynastie war Ng Mui eine buddhistische Nonne und Kampfkunstmeisterin des berühmten Shaolin Klosters. Als dieses durch die Allianz zwischen der Regentschaft und einigen verräterischen Mönchen niedergebrannt wurde, war sie eine der fünf Überlebenden und tauchte unter.

Der Kranich und die Schlange
Der Kranich und die Schlange

Um sich gegen ihre Widersacher – welche ebenfalls Shaolin-Kämpfer waren – zu schützen, entwickelte Ng Mui ein neues Kampfsystem welches mit überlegener Technik und minimalem Kraftaufwand funktionieren sollte. Dies war für sie besonders wichtig, da sie als in die Jahre gekommene Nonne den Kampfmönchen physisch unterlegen war.

Inspiriert habe sie dabei ein beobachteter Kampf zwischen einem Kranich und einer Schlange (anderen Quellen nach war die Schlange ein Fuchs). Während die Schlange geradlinig auf dem schnellsten Weg attackierte, wich der Kranich durch Neupositionierung den Attacken aus, wehrte mit dem Flügel ab und konterte gleichzeitig mit dem Schnabel.

Yim Wing Chun
Yim Wing Chun

Während Ng Mui immer noch auf der Flucht vor ihren Widersachern war, traf sie auf das junge Mädchen Yim Wing Chun (Schöner Frühling), Tochter eines Lebensmittelhändlers, bei dem sie regelmässig einkaufte. Der Lebensmittelhändler erzählte Ng Mui von den Problemen mit dem gefürchteten Dorfschläger und Kampfkunstexperten Wong, welcher unter Androhung von Gewalt um Yim Wing Chuns Hand anhielt. Ng Mui entschied sich, Yim Wing Chun zu helfen und lehrte ihr das neu entwickelte Kampfsystem.

 

Nach drei Jahren (nach manchen Quellen auch wenigen Monaten) des Privatunterrichts beherrschte das Mädchen die Kampfkunst. Als sie von Wong wieder bedrängt wurde, sagte sie ihm, sie würde ihn nur heiraten wenn er sie in einem Kampf besiegen könnte. Wong willigte ein, wurde aber prompt besiegt, worauf es keine Probleme mehr gab.

 

Entweder Ng Mui selbst oder Yim Wing Chuns späterer Ehemann und Schüler Leung Bok Chau sollen dem neuen Kampfstil den Namen Wing Chun gegeben haben.

Yip Man
Yip Man

Über etliche Generationen wurde der Wing Chun Stil weitergelehrt und erreichte schliesslich Yip Man (1893-1972). Da Grossmeister Yip Man als erster einen grösseren Schülerkreis unterrichtete, wurde das damals noch völlig unbekannte und geheim gehaltene Wing Chun weltweit verbreitet. Einer seiner berühmtesten Schüler in Hong Kong war wohl Bruce Lee, welcher dann später als Schauspieler in Amerika den asiatischen Kampfkünsten zu einem weltweiten Boom verhalf.

 

Yip Man war das letzte anerkannte Stiloberhaupt des Wing Chun. Da er nie einen Nachfolger bestimmte, wurde der Stil von seinen Schülern in verschiedenen Linien ohne Nachfolgeregelung verbreitet. Dies führte teils zu Streitigkeiten. Heute erscheint das aber nicht mehr wichtig. Bedeutend ist nur der Kern der Sache; die Überlieferung des Inhalts; die Essenz; die Faszination Wing Chun.

Lex Reinhart und Marcel Eichenberger
Lex Reinhart und Marcel Eichenberger

Wing Chun wird heutzutage erfreulicherweise in vielen Schulen in guter Qualität, seriös und in freundschaftlicher Atmosphäre unterrichtet.

 

Zwischen den heutigen Wing Chun-Schulen gibt es einige Unterschiede in der Ausführung der Techniken und in der Fokussierung auf die verschiedenen Inhalte. Ein Hinweis für Kampfkunst im stetigen Wandel. Kampfkunst entwickelt sich seit je her weiter und beruht nicht ausschliesslich auf den Lehren eines einzigen Gründers. Man könnte von Evolution sprechen. Das ist gut so. Trotz feiner Unterschiede zwischen den Schulen findet sich eine gemeinsame Essenz welche die Line zu Yip Man erkennen lässt.

 

Die NING MUI Athletic Organisation welche 1990 von Grossmeister Lex Reinhart gegründet wurde, entstammt ebenfalls der Yip Man-Line und gibt Wing Chun an Interessierte und Begeisterte weiter.

Zumindest bis zu Yip Man zurück ist die Geschichte des Wing Chun recht gut belegt. Was weiter zurück liegt wird schnell diffus und sollte viel mehr als Legende oder Mythos, nicht aber als Fakt verstanden werden. Einerseits ist die chinesische Geschichte - verglichen mit der europäischen Geschichte - zu dieser Zeit allgemein nicht so gut dokumentiert worden. Andererseits gibt es historisch wohl weit Bedeutenderes als Kampfkunst. So wurden viele Kampfkustlegenden, so wie auch die Legende über die Entstehung des Wing Chun, von Kampfkünstlern selber geschrieben und erzählt, nicht aber von unabhängigen Historikern wissenschaftlich untersucht.  

 

Die soeben erzählte Legende des Wing Chun ist eine von verschiedenen Varianten die man hört. Eine Variante mit einer schönen Symbolik für das Wesen der Kampfkunst.

 

So steht die Legende der älteren Nonne Ng Mui und der jungen Yim Wing Chun mit ihren männlichen Widersachern keines Wegs für einen Geschlechterkampf. Es geht um das von vielen Kampfkünsten angestrebte Ideal, mittels intelligenter Prinzipien und Techniken eine grössere physische Kraft zu überwinden. Wing Chun kann tatsächlich unabhängig von Physis, Geschlecht und Alter erlernt werden.

 

Der Kampf zwischen Kranich und Schlange sollte auch nicht wörtlich verstanden werden. Obschon Tierbeobachtungen in einigen Kampfkunstlegenden eine Rolle spielen, ist es für uns Menschen schwierig, Tierbewegungen zu adaptieren, da wir anatomisch anders gebaut sind. Zwei Prinzipien des Wing Chun sind dagegen schön symbolisiert. Neupositionierung mit gleichzeitiger Abwehr und Konterangriff (Kranich) sowie geradlinige, direkte Bewegungen (Schlange).

 

Nicht zuletzt macht die Legende auch deutlich, dass Kampfkunst niemals missbraucht werden darf.

 

 

 

Quellenangabe:

Haiderer, A., Wing Chun Geschichte und Hintergründe einer chinesischen Kampfkunst, VDM Verlag Dr. Müller